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Ich wurde auf den Namen Abigail Onions getauft. Eigentlich sollte ich Annabel heißen, aber mein Vater, der sich in einem Zustand erhöhter Gefühlsregung befand, als er meine Geburt registrieren lassen wollte, erinnerte sich falsch an den Namen, über den er und meine Mutter volle neun Monate debattiert hatten. Diese Verfehlung führte er darauf zurück, dass er an dem Abend, als meine Mutter ins Krankenhaus musste, Nabucco gehört hatte, und der Name Annabel und der der bösen Schwester in seinem Kopf durcheinander geraten waren. Es war eine lange und schwere Niederkunft, und da ist ein gewisses Element der Verwirrung verständlich. Ich nehme an, ich sollte dankbar sein, dass er nicht Götterdämmerung gehört hat.

Nach ein paar Tränen fand meine Mutter sich mit dem neuen Namen ab, und als ich allmählich hineinwuchs, gefiel er ihr sogar besser als der ursprüngliche, den sie unerklärlicherweise plötzlich »ordinär« fand, ihrer Meinung nach das Allerschlimmste, was ein Name - oder auch alles andere - sein konnte.

Für mich war all das natürlich nicht besonders wichtig, Im Vergleich zu dem Gräuel meines Nachnamens (Onions = Zwiebeln) - der Munition für Tausende von Wortspielen in sich barg und mich vor Verlegenheit lähmte, wenn ich jemandem vorgestellt wurde - war die leichte Abweichung zwischen meinem geplanten und endgültigen Namen nebensächlich. »Abigail« gab keinen Anlass zu Peinlichkeiten - eine Eigenschaft, die ich höher schätzte als jede andere.

Wir bewohnten eine Hälfte eines großen, zwischen den Weltkriegen erbauten Doppelhauses in einer Vorstadt in Kent. Der Garten, der durch kniehohe Zäune von den Nachbargärten getrennt war, grenzte hinten an einen Eisenbahndurchstich. Die Strecke war eine wenig genutzte Pendlerlinie, auf der pro Tag vier Züge verkehrten, und morgens und abends hopste ich am Ende des Gartens auf und ab und winkte den etwa zwölf Passagieren zu, während sie auf dem Weg zur Arbeit und zurück vorbeirumpelten. Als ich vier war, fand dieses Kindheitsritual ein unsanftes Ende: Ein Mann, der allein in einem Waggon war, entblößte sich am Fenster, und als ich meiner Mutter davon erzählte, brach sie in Tränen aus und verbot mir, weiterhin den Zügen zuzuwinken. »Von einem dreckigen Perversen eines unschuldigen Vergnügens beraubt«, hörte ich sie toben, als sie es Vater berichtete. Ich erzählte ihr nicht, dass ich den Pendlern schon seit ein paar Wochen meinen Schlüpfer gezeigt hatte.

Meine Mutter war die Gärtnerin in der Familie. Sie sprach immer von Landschaftsgärtnerei, als hätte sie Berge zu bearbeiten und Flüsse zu zähmen statt eines tischtuchgroßen Rasenstücks und ein paar Blumenbeeten. Vater wurde mit ein paar niederen Arbeiten betraut - er musste mit einem Rasenmäher auf und ab stapfen, wobei er einen glitzernden Regenbogen aus Grasstaub aufsteigen ließ, das Gemüsebeet umgraben, Komposttüten besorgen und schleppen und alles beschneiden, was groß und stachelig war und woran man leicht hängen blieb.

Die Rosen waren das Ressort meiner Mutter. Den ganzen Winter über hockten die verkümmerten Skelette in ihren Beeten, wie ein Vorwurf und eine Erinnerung an den Kampf, der jedes Jahr zwischen Mutters Arsenal aus Pudern, Kügelchen und Sprays auf der einen Seite und grüner Blattlaus, Mehltau und Sternrußtau auf der anderen um ihre zarten Blüten geführt wurde. Aber ihre Bemühungen blieben nicht ohne Erfolg, denn in jedem Sommer sprossen die Büsche, wurden dichter und brachen in einer samtigen Masse aus Farben und Duft hervor. Die Blumen zu pflücken war strengstens verboten. Meine erste Dosis körperlicher Bestrafung bekam ich dafür, dass ich für ein Parfümproduktionsexperiment alle Köpfe der Baroness Rothschild abgerissen hatte. Die Hand, die zu sanft war, ein Blütenblatt zu zerquetschen, hinterließ durch zwei Schichten Kleidung einen vierfingrigen blauen Fleck auf meinem Hintern. Ich hatte gehofft, durch den Erfolg meines Projekts rehabilitiert zu werden, aber das Marmeladenglas mit Wasser und Rosenblättern verwandelte sich über Nacht in ein übel riechendes, braunes Mus und musste auf den Kompost geworfen werden.

Unsere Straße war eine von Bäumen gesäumte Sackgasse in Form eines Lutschers, mit einer runden Grünfläche am Ende, von der Hunde und Kinder, eigentlich alle Lebewesen, denen sie eventuell etwas Vergnügen bereitet hätte, fern gehalten wurden, und sie wurde von Autofahrern, die die Abzweigung nach Bromley übersehen hatten, als Wendeplatz benutzt - eine Tatsache, die bei meiner Mutter erhebliche Bestürzung auslöste. Manchmal stand sie am Fenster, sah mit verschränkten Armen durch die Tüllgardinen und beobachtete das Vordringen irgendeines Anstoß erregenden Fahrzeugs. »Wender«, erklärte sie dann missbilligend. Abgesehen vom Eindringen »der Wender« war es eine ruhige Straße: Gartenarbeiten vor dem Haus wurden normalerweise schweigend verrichtet, und Nachbarn kommunizierten über angrenzende Hecken und Mauern hinweg eher mit Kopfnicken und dem Hochziehen von Augenbrauen als mit Worten. Auch im Haus war es still. Die dicken, weichen Teppiche schienen Geräusche zu schlucken, wie Löschpapier Tinte aufsaugt, und Mutters Vorschrift, in der Wohnung die Straßenschuhe auszuziehen, führte dazu, dass wir drei in unseren Socken so leise umhertapsten wie Katzen. Sogar die Kuckucksuhr, ein Souvenir von der Hochzeitsreise meiner Eltern in die Schweiz, hatte nach und nach ihre Stimme verloren, und das Vögelchen kam jede Stunde mit einer stummen Grimasse statt mit einem Zwitschern hinter seinem Türchen hervor. Manchmal ließ Mutter auf dem Plattenspieler klassische Musik laufen, aber nur mit der Lautstärke auf der geringsten Stufe: Oboen zwitscherten wie Kanarienvögel, Becken klirrten wie Teelöffel, und großartige, dröhnende Symphonien waren zu einem Flüstern gedämpft.

Ich nehme an, das ist der Grund, weshalb das folgende Ereignis so deutlich aus meinen Erinnerungen hervorsticht. Es kommt mir seltsam vor, dass ich mich so detailliert an etwas erinnern kann, das passierte, als ich erst zwei war, aber ich weiß, dass ich damals nicht viel älter gewesen sein kann, weil ich noch in meinem Kinderbett schlief, und in der Familienüberlieferung ist es gut dokumentiert, dass das Bettchen zusammenbrach, als ich zweieinhalb war, wobei ich mir die Finger einklemmte, und dass danach für gefährlich gehalten und zum Wohltätigkeitsbasar der Pfadfinder gegeben wurde.

Woran ich mich erinnere, ist Folgendes: Einige Zeit, nachdem ich ins Bett gebracht worden war, wachte ich vom Weinen, eigentlich vom Schluchzen, meiner Mutter auf. Durch die offene Tür konnte ich das Licht aus dem Elternschlafzimmer sehen, das Streifen auf den Treppenabsatz warf; meine Mutter kam heraus und zerrte einen Koffer hinter sich her. Einen Augenblick später hörte ich schwere Schritte auf der Treppe, und mein Vater, der ebenfalls weinte, erschien. Dann folgte ein wütender Wortwechsel und ein Kampf um den Koffer, den mein Vater natürlich gewann, und ein gewaltiges Krachen, als er ihn die Treppe hinunterschleuderte. Das war die einzige Gewalttätigkeit, die ich unter diesem Dach je erlebt hatte, und mein verängstigtes Geheul ließ gleich darauf meine Mutter zu mir eilen; sie umarmte mich grimmig, bis ich wieder einschlief. Soweit ich weiß, haben sie nie wieder ihre Stimmen erhoben. Es war ein sehr zivilisierter Haushalt.

Es gab auch medizinische Gründe, wieso in der Sackgasse, Hausnummer 12, Ruhe so hoch geschätzt wurde. Meine Mutter litt an schrecklichen Migräneanfällen, die sie tagelang außer Gefecht setzten, und die durch helles Licht, Hitze, Lärm, Erregung und eine Vielzahl von harmlos aussehenden Nahrungsmitteln ausgelöst werden konnten. So lange wie möglich widersetzte sie sich einem Ausbruch, schleppte sich blass, eine Packung gefrorener Erbsen an die Stirn gepresst, mit zugekniffenen Augen im Haus herum, bis es sie schließlich die Treppe hinauf trieb, wo sie Zuflucht im abgedunkelten Schlafzimmer suchte. Im Eisfach unseres Kühlschrankes war eigens für diesem Fall immer ein Vorrat an gefrorenem Gemüse. Die Packungen mussten regelmäßig gewechselt werden, denn die glühenden Kopfschmerzen meiner Mutter waren so intensiv, dass sie eine innerhalb von zwanzig Minuten zum Schmelzen brachte. Sie beklagte sich nie. Mein Vater und ich schlichen uns in kurzen Abständen an ihr Bett, um die Eispackung zu wechseln oder ihr einen nassen Waschlappen auf die Stirn zu legen, und dann lächelte sie schwach und versprach, bald wieder nach unten zu kommen. Gelegentlich forderte sie mich auf, ihr mit einem Metallkamm über die Kopfhaut zu kratzen, dem Prinzip folgend, dass man die Schmerzen, wenn man sie schon nicht lindern, doch wenigstens abwechslungsreich gestalten konnte.

Während dieser Rückzugsphasen mussten mein Vater und ich für uns selbst sorgen. Vater, der nicht nur so vor sich hin wursteln wollte, riss sich zusammen, holte Kochbücher aus dem Arbeitszimmer, fuhr meilenweit, um nach obskuren Zutaten zu suchen, und bereitete eine üppige, für den Gaumen eines Kindes ziemlich ungeeignete Mahlzeit - Tintenfisch vielleicht, oder ein scharfes Currygericht die ich tapfer schluckte, während ich die ganze Zeit betete, dass meine Mutter schnell wieder genesen solle.

Manchmal hielt Vater es für seine Pflicht, mich zu unterhalten, eine Situation, die uns beiden Sorgen bereitete. Einmal, als ich fünf war, ging er mit mir zu einer Matinee von Verlorene Liebesmüh während der ich die ganze Zeit fest schlief, und ein andermal in einen Zirkus, wo ich sowohl den Anblick erwachsener Männer in Clownskostümen, die sich lächerlich machten, ertragen musste, als auch den meines Vaters neben mir, der sich vor Langeweile und Verlegenheit wand. »Hast du geglaubt, das würde mir gefallen, Daddy?«, fragte ich ihn danach freundlich, eine Geschichte, die er oft erzählte, als ich älter war. Nach diesen Katastrophen unterließ Vater es für eine Weile, Ausflüge vorzuschlagen, und beschränkte sich auf einfachere Vergnügungen. Er brachte mir Backgammon und Rommee bei oder saß einfach neben mir auf dem Sofa, während jeder in seinem Buch las und darauf wartete, dass die Migräne oben vorbeiging. Aber ein Ereignis sticht aus allen anderen heraus.

Schon den ganzen Morgen hat im Haus eine komische Atmosphäre geherrscht. Kein Streit, aber so als würde etwas unterschwellig gären. Der samstägliche Einkauf beim Fleischer und Obst- und Gemüsehändler ist schweigend erledigt worden, und gegen elf Uhr hat meine Mutter sich mit Kopfschmerzen ins Bett zurückgezogen. Für mich ist das eine frühe Phase der wachsenden Erkenntnis, dass meine Eltern nicht besonders glücklich sind - wenigstens nicht gleichzeitig. Mir ist langsam aufgefallen, dass sie sich nicht anschreien wie andere Paare, die ich zum Beispiel auf der Post gesehen habe, aber auch keine besondere Zuneigung füreinander an den Tag legen. Sie küssen, umarmen und necken mich, nicht sich.

Während Mutter sich in ihr Bett und Vater sich in sein Arbeitszimmer zurückzieht, spiele ich im Garten hinterm Haus mit Margot und Sheena. In diesem Stadium (ich bin sechs) habe ich mir zwei imaginäre Freundinnen angeschafft, Margot, die etwas älter ist als ich, hübsch, dunkelhaarig und sehr herrisch, und Sheena, die jünger ist, blond, natürlich hübsch und nicht ganz so selbstbewusst. Ich mag Sheena lieber, aber Margot ist diejenige, die die Dinge regelt. Wir üben unser Ballett. Margot führt eine Reihe von Pirouetten vor, die in einem Sprung gipfeln, und Sheena und ich applaudieren begeistert. Margot hat schon Spitzenschuhe, während wir noch weiche Tanzschuhe tragen: Unsere Füße seien noch nicht ausreichend entwickelt, ist Margots Argumentation, und wenn wir zu früh versuchten, zu Spitzenschuhen zu wechseln, würden wir später deformiert sein und höchstwahrscheinlich verkrüppelt.

»Du bist dran«, befiehlt sie, und ich fange mit der Nummer an, an der ich schon ein paar Tage gefeilt habe. Sie ist, finde ich, besser als Margots, weil sie eine Geschichte erzählt: Es geht um ein junges Mädchen, das sich mit einer Nachtigall anfreundet, die dann wegfliegt und es verloren zurücklässt, und wird mit so viel Pathos dargeboten, wie ich nur aufbringen kann. Sheena ist sehr bewegt.

»Gefällt es dir?«, frage ich Margot.

»Ja, Schatz, sehr gut.«

»War sie so gut wie deine?«, hake ich nach.

»Nein, Schatz«, sagt Margot freundlich. »Nicht ganz.«

Während ich mich noch davon erhole, sehe ich Vater am Fenster. Er steht zwischen den Tüllgardinen und der Glasscheibe und blickt in die Ferne. Ich winke ihm, aber er sieht mich nicht. Als ich hineinkomme, steht er noch genauso da, und ich schleiche mich an ihn heran und schlüpfe unter den Tüll. Geistesabwesend legt er mir eine Hand auf den Kopf und zerzaust mein Haar, das ich prompt wieder glatt streiche.

»Daddy?«, sage ich. »Wieso sind du und Mummy traurig?«

Seine Hand zuckt zurück, als hätte er den Finger in eine unter Strom stehende Steckdose gesteckt, und er sagt: »Wir sind nicht traurig, Schätzchen. Wie könnten wir das sein, mit so einer wunderschönen Tochter?« Und er schiebt die Tüllgardinen weg, hebt mich schwungvoll hoch und gibt mir einen Kuss auf die Nase. »Ich sag dir was, wir gehen aus, ja? Wir essen irgendwo zu Mittag.« Das ist sehr aufregend für mich, weil ich noch nie auswärts gegessen habe.

Als Vater das Auto rückwärts aus dem Tor fährt, öffnet sich ratternd das Schlafzimmerfenster, und Mutter erscheint, eine Plastiktüte in der Hand. »Hast du nicht was vergessen?«, sagt sie kalt, und Vater zieht ruckartig die Handbremse an und geht mit großen Schritten die Einfahrt wieder hinauf. Einen Augenblick später kommt er mit der Tüte zurück, in der anscheinend ein mit braunem Papier umwickeltes Paket ist, und verstaut sie im Kofferraum.

»Was ist das?«, frage ich, als wir endlich auf dem Weg sind.

»Eine Besorgung«, sagt er in einem Ton, der jede weitere Frage unterbindet.

Ich sitze mit ausgestreckten Beinen auf dem Rücksitz anscheinend ist es gefährlich für mich, vorne zu sitzen, für Vater dagegen in Ordnung. Das macht es schwierig, sich zu unterhalten, aber Vater ist sowieso kein großer Redner, und in freundlichem Schweigen geht die Fahrt weiter, Straße um Straße, bis wir nach fast einer Stunde vor einem außergewöhnlichen Haus anhalten. Im Vergleich zu diesem Haus ist die Straße unauffällig - zwei Reihen großer Backsteinhäuser, keine Lücken dazwischen, kleine Vorgärten und zwei Parkstreifen mit Autos. Doch an der Ecke, von der Straße zurückgesetzt, am Ende einer halbkreisförmigen Zufahrt, hockt dieses Monster mit einem Turmzimmer auf jeder Seite, wie ein Paar hochgezogene, knöcherne Schultern, und mit ungleichmäßig großen Fenstern, die ihm ein beunruhigendes Schielen verleihen. Der Garten, ein Wald aus ungemähtem Gras, Dornensträuchern und riesigem, gummiartigem Gestrüpp, das von violetten Blumen erstickt wird, ist von einer hohen Mauer umgeben, und oben an den Torpfosten sind zwei Furcht erregende Bilder eingeritzt. Eins ist der Kopf eines knurrenden Wolfes, und das andere ist ein Adler oder Geier - jedenfalls ein wild aussehender Vogel - mit einem hakenförmigen Schnabel und finster starrenden Augen, die auf mich gerichtet zu sein scheinen. Während ich auf dem Rücksitz kauere und versuche, ihren Blicken auszuweichen, holt Vater das Paket aus dem Kofferraum und läuft die Einfahrt hinauf. Die Haustür wird von einem der violetten Büsche verdeckt, aber einen Augenblick später taucht er wieder auf, und wir fahren weiter. Nachdem seine Besorgung erledigt ist., scheint Vater gesprächiger zu sein, und er erzählt mir, dass er mich an einen schönen Ort bringe, an einen seiner Lieblingsplätze, einen heiligen Ort namens Half Moon Street; er hoffe, dass ich bequeme Schuhe anhabe, weil wir ein Stück zu Fuß gehen müssen. Ich schaue auf meine Schuhe. Ich habe die Unpässlichkeit meiner Mutter ausgenutzt und meine weißen Lackledersandalen angezogen, die ich nur im Haus tragen darf, zu besonderen Anlässen. Normalerweise kann man sich darauf verlassen, dass Vater solche Details nicht auffallen. Ich erzähle ihm, dass sie äußerst bequem sind, was wahr ist, und bete, dass es dort keinen Schlamm gibt.

Wir essen in einem Dorfpub zu Mittag. Wir sitzen im Garten, weil es ein sonniger Tag ist und weil Kinder nicht hinein dürfen. Vater ist äußerst penibel, wenn es darum geht, solche Verbote einzuhalten, und lässt mich nicht einmal im Pub aufs Klo gehen; stattdessen müssen wir im Dorf umhertrotten, bis wir eine Damentoilette finden.

Wir essen beide Rindfleisch-Nieren-Pastete mit Pommes. Als ich fertig bin, stochert Vater in meinen Resten und isst die Dosenerbsen, die ich auf dem Teller zur Seite geschoben habe, und die Fleischbrocken, die ich als zu zäh oder knorpelig aussortiert habe. Ich probiere zum ersten Mal klare Limonade. Wie, will ich wissen, kann etwas, das wie Wasser aussieht, so gut schmecken? Vater beginnt mit der Erklärung von Aromen und Chemikalien, nimmt sich dann aber zusammen, als er mein Gesicht sieht, und fragt, ob ich noch ein Glas möchte. Er zündet seine Pfeife an, und als die ersten Rauchwolken zum Himmel ziehen, nehmen die Leute am Nachbartisch ihre Teller und verschwinden in die hinterste Ecke des Gartens. Seufzend klopft Vater seine Pfeife im Aschenbecher aus. Es ist so warm, dass ich mir meine Strickjacke um die Taille gebunden habe, aber Vater hat Hemd, Krawatte, Pullover und Jacke noch an. Er trägt immer eine Krawatte. Seine Garderobe ist einfach, und obwohl keins seiner Kleidungsstücke leger ist, ist auch keins richtig schick. Er friert leicht, was ungünstig ist, weil unser Haus praktisch ungeheizt ist: Jede Spur von Wärme kann einen von Mutters Migräneanfällen auslösen.

Half Moon Street erreicht man durch tief liegende Wege. Die Bäume, seit kurzem grün, wölben sich wie ein Tunnel über uns, verdecken den Himmel. Überall um uns herum ist das scharfe, saure Grün des Frühlings. Es ist, als würde man sich in einen Apfel verkriechen. Wir müssen das Auto ungefähr eine halbe Meile entfernt auf dem Parkplatz eines Pubs stehen lassen und zu Fuß weitergehen; der Weg wird zu einem Feldweg, und ich muss aufpassen, damit ich nicht in Pfützen trete. Ab und zu muss Vater mich über große Schlammstreifen tragen. Wir steigen hinab in eine Senke, biegen um eine Ecke, und da ist es: Mein erster Blick auf Half Moon Street, überhaupt keine Straße, sondern ein moosgrüner Teich, von einer Krone aus Bäumen umgeben, mit einem winzigen Backsteincottage und einem Landungssteg auf einer Seite. Der Garten, ein Wasserfall aus blauen Wiesenglockenblumen und Vergissmeinnicht, reicht bis zum Ufer, wo ein kleines Holzboot an ein Schild gebunden ist, auf dem steht: BOOTFAHREN, ANGELN UND SCHWIMMEN VERBOTEN. Das Cottage ist offensichtlich bewohnt, denn die Fenster im ersten Stock sind geöffnet, und ich sehe Vorhänge flattern. Vor der Haustür stehen ein Kübel mit verblühten Osterglocken und ein grüner Stuhl, von dem die Farbe abblättert, mit einem Patchwork-Kissen auf dem Sitz und einem Buch über der Armlehne. »Als ich das letzte Mal hier war, war das Cottage leer«, sagt Vater. »Ich bin froh, dass es jetzt vermietet ist. Es schien mir eine solche Verschwendung zu sein.« Auf dem Teich schwimmen eine Ente und ein paar Entenküken. Nur ihre Haarnadelspuren stören die Symmetrie des Spiegelbilds der Bäume. Es ist so schön, dass es nicht real zu sein scheint.

»Das ist ein Hammerteich«, sagt Vater und versucht mir etwas über Wasserräder und Eisenverhüttung zu erklären, aber meine Gedanken sind bereits abgeschweift, und ich höre bald nicht mehr zu. Ich schmiede Pläne, wie ich später hier wohnen werde, vielleicht mit einer Freundin. Ich weiß schon, dass es einer meiner speziellen Orte sein wird. Ich habe Vater nicht einmal gefragt, wie er ihn entdeckt hat. Es spielt keine Rolle; er gehört jetzt mir. Wir umrunden den Teich; Vater geht und ich renne, schlängele mich um die Bäume herum und hinunter ans Wasser. Auf einem Schild, das an einen Baum genagelt ist, steht: VORSICHT VIPERN, und als Vater es sieht, sagt er zu mir, ich soll aufpassen, wo ich hintrete.

Als wir ungefähr eine Stunde später zum Auto zurückkommen, fällt mir auf, dass meine Sandalen schwarz vor Schlamm sind. Sie mit einem Taschentuch abzuwischen erweist sich als nutzlos - der Schmutz ist tief in die Naht eingedrungen, und das Leder ist von Zweigen zerkratzt. Sie sind ruiniert. Nachdem ich ein paarmal heftig geschluckt habe, breche ich in Tränen aus und plärre ein Geständnis heraus. Vater ist mitfühlend. Im Vergleich zu seinen eigenen Schuhen, die voll Schlamm sind, sehen meine ganz ordentlich aus, aber er weiß, dass kleine Mädchen und insbesondere erwachsene Frauen einigen Wert auf schickes Schuhwerk legen. Außerdem wird er von meiner Mutter zum Teil dafür verantwortlich gemacht werden, dass sie verdorben sind, und deshalb sind Hilfsmaßnahmen erforderlich.

»Wo habt ihr die gekauft?«, fragt er. Zwischen Schluchzern sage ich es ihm: Es ist eine billige Ladenkette, und er ist zuversichtlich, dass wir auf dem Heimweg eine Filiale finden und sie ersetzen können. In Dorking gibt es sie, aber nur in Beige. In Reigate haben sie meine Größe nicht. Wir stöbern schließlich gefährlich nahe an zu Hause ein Paar auf, und die Erleichterung ist riesig. Das alte Paar und die Verpackung der neuen Schuhe werden in einen Mülleimer geworfen, und ein Geheimhaltungseid wird geschworen. Vater versucht, den Betrug zu bagatellisieren, deutet aber an, dass ihm lieber wäre, wir würden es für uns behalten. »Wir wissen beide, dass es Mummy nicht viel ausmachen würde, aber es hat keinen Zweck, sie zu verärgern, wenn sie Kopfschmerzen hat«, sagt er irgendwie unlogisch. Die Aufregung, mich mit Vater gegen Mutter zu verbünden, wird durch ein Gefühl des Unbehagens beeinträchtigt. Ich neige von Natur aus dazu, die Wahrheit zu sagen.

Als wir zurückkehren, sind Mutters Kopfschmerzen und ihre schlechte Laune verflogen, und sie ist unten und bäckt einen Schokoladenkuchen - ein besonderer Leckerbissen und ein großes Zugeständnis, denn Schokolade ist eines ihrer verbotenen Nahrungsmittel, und deshalb wird sie sich nur indirekt daran erfreuen können. Sie, Vater und ich begrüßen uns fröhlich, und nachdem ich die verräterischen Sandalen in meinem Zimmer verstaut habe, werde ich umarmt und gestreichelt und darf den Löffel mit dem Kuchenteig ablecken. Am Abend, nach dem Essen, gesellt mein Vater sich zu uns, statt sich in sein Arbeitszimmer zurückzuziehen, um Hefte zu korrigieren, Unterrichtsstunden vorzubereiten oder an seinem Projekt zu arbeiten irgendein monumentaler und auf ewig unvollendeter Kommentar zum griechischen Drama und spielt mit uns Karten. Im Hintergrund läuft leise Klaviermusik, und zu unserem Rommee, das wir um Streichhölzer spielen, trinken wir heiße Milch und essen Kuchen. Wir sind glücklich, alle drei, gleichzeitig, am selben Ort.

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